Artikel 81 [Gesetzgebungsnotstand]
(1) 1 Wird im Falle des Artikels 68 der Bundestag nicht aufgelöst, so kann der Bundespräsident auf Antrag der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates für eine Gesetzesvorlage den Gesetzgebungsnotstand erklären, wenn der Bundestag sie ablehnt, obwohl die Bundesregierung sie als dringlich bezeichnet hat. 2 Das Gleiche gilt, wenn eine Gesetzesvorlage abgelehnt worden ist, obwohl der Bundeskanzler mit ihr den Antrag des Artikels 68 verbunden hatte.
(2) 1 Lehnt der Bundestag die Gesetzesvorlage nach Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes erneut ab oder nimmt er sie in einer für die Bundesregierung als unannehmbar bezeichneten Fassung an, so gilt das Gesetz als zustande gekommen, soweit der Bundesrat ihm zustimmt. 2 Das Gleiche gilt, wenn die Vorlage vom Bundestage nicht innerhalb von vier Wochen nach der erneuten Einbringung verabschiedet wird.
(3) 1 Während der Amtszeit eines Bundeskanzlers kann auch jede andere vom Bundestage abgelehnte Gesetzesvorlage innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der ersten Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes gemäß Absatz 1 und 2 verabschiedet werden. 2 Nach Ablauf der Frist ist während der Amtszeit des gleichen Bundeskanzlers eine weitere Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes unzulässig.
(4) Das Grundgesetz darf durch ein Gesetz, das nach Absatz 2 zustande kommt, weder geändert, noch ganz oder teilweise außer Kraft oder außer Anwendung gesetzt werden.
I. Allgemeines
Die Vorschrift eröffnet die Möglichkeit, in einer Krisensituation, die aus einer Funktionsstörung des BTags resultiert (BVerfGE 6, 104 (118)), ohne die Zustimmung des Parlaments Gesetze zu verabschieden. Art. 81 ermöglicht dann ein „verkürztes Gesetzgebungsverfahren“ und stellt sich somit als lex specialis zu Art. 76 und 77 dar. Schweren Störungen im Verhältnis von BKanzler und BTag soll ohne das Mittel der Neuwahl begegnet werden. Einer Minderheitsregierung sollen die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für ihre Handlungsfähigkeit geschaffen werden (BVerfGE 62, 1 (74)). Durch diese Vorgehensweise, die bislang noch nicht praktisch relevant geworden ist, wird die Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips in Kauf genommen, da die Gesetzgebungskompetenz des BTags untergraben wird. Funktionell wird die Anwendung der Vorschrift auf den Bereich der Gesetzgebung beschränkt. Alle übrigen Funktionen des Parlaments werden nicht tangiert.
Gestärkt werden im Fall eines Gesetzgebungsnotstands BReg und BRat, die als Ersatzgesetzgeber Bundesgesetze ohne Zustimmung des BTags beschließen können (BK/Klein Art. 81 Rn. 61). Dem BPräsidenten gewährt Art. 81 einen selbständigen politischen Beurteilungs- und Handlungsspielraum, indem Art. 81 I 1 ausdrücklich die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands in das Ermessen des BPräsidenten legt, der in diesem politischen Spannungsfeld nicht auf bloße Repräsentationsaufgaben und Vollzugsakte beschränkt ist (BVerfGE 62, 1 (35)).
II. Voraussetzungen des Gesetzgebungsnotstands
1. Gescheiterte Vertrauensfrage
Inhaltlich knüpft Art. 81 I an die Vertrauensfrage nach Art. 68 an, wobei Art. 81 I 2 darüber Auskunft gibt, dass eine Vertrauensfrage mit einer Gesetzesvorlage verbunden werden kann (Art. 68 Rn. 3). Art. 81 I setzt zunächst voraus, dass ein vom BKanzler nach Art. 68 I 1 gestellter Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des BTags gefunden hat. Art. 81 I 1 sieht dies ausdrücklich vor. Im Fall des Art. 81 I 2 ergibt sich dies daraus, dass bei einer Ablehnung einer Gesetzesvorlage im BTag die damit verbundene Vertrauensfrage notwendigerweise immer scheitert.
Weiterhin setzt Art. 81 I voraus, dass der BTag nicht nach Art. 68 I 1 aufgelöst worden ist. Dies kann entweder daraus resultieren, dass der BKanzler dem BPräsidenten keinen entspr. Vorschlag unterbreitet oder aber der BPräsident einen solchen Antrag zurückgewiesen hat (Sachs/Mann Art. 81 Rn. 3).
Auch muss der BKanzler nach der gescheiterten Vertrauensfrage weiter im Amt sein, dh der BTag darf insbes. in der Zwischenzeit nicht mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen BKanzler gem. Art. 68 I 2 gewählt haben.
2. Ablehnung einer Gesetzesvorlage
a) Ablehnung im Bundestag
Art. 81 regelt zwei unterschiedliche Wege, auf denen es zu einer Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes kommen kann. In beiden Fällen ist vorausgesetzt, dass eine Gesetzesvorlage im BTag abgelehnt worden sein muss. Der Ablehnung steht im Falle von dringlichen Gesetzesvorlagen (Rn. 7) nach § 99 GeschOBTag gleich, wenn sich der BTag mit ihr nicht alsbald befasst oder wenn mehrfach wegen Beschlussunfähigkeit des BTags ergebnislos abgestimmt worden ist. In Anlehnung an den Rechtsgedanken des Art. 81 II 1 wird der Ablehnung ebenfalls gleichgestellt, wenn die Vorlage in einer Fassung vom BTag angenommen wird, die die BReg als unannehmbar bezeichnet hat (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 81 Rn. 2; BeckOK GG/Pieper Art. 81 Rn. 4). Die bloße Ablehnung einer Gesetzesvorlage allein schafft jedoch noch nicht die Voraussetzungen für die Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes. Hinzukommen muss entweder eine zuvor von der BReg erklärte Dringlichkeit der Vorlage (Art. 81 I 1) oder eine Verbindung der Vorlage mit der Vertrauensfrage (Art. 81 I 2).
b) Dringlichkeit der Gesetzesvorlage
Ob die BReg eine Vorlage durch Kabinettsbeschluss als dringlich bezeichnet, liegt in ihrem Ermessen. Die Dringlichkeitserklärung kann sich auf eine Gesetzesvorlage insgesamt oder auf Teile einer Gesetzesvorlage beziehen (DHS/Herzog Art. 81 Rn. 33). Voraussetzung für den Gesetzgebungsnotstand ist freilich, dass der BTag gerade die für dringlich erklärten Teile abgelehnt hat.
c) Verbindung mit Vertrauensfrage
Der Gesetzgebungsnotstand kann nach Art. 81 I 2 auch bei nicht dringlichen Gesetzesvorlagen erklärt werden, sofern der BKanzler die abgelehnte Gesetzesvorlage zuvor mit einer Vertrauensfrage verbunden hatte. Der BTag muss in einem solchen Fall über beide Gegenstände zwingend gleichzeitig und einheitlich abstimmen.
3. Antrag der Bundesregierung
Sowohl im Fall von Art. 81 I 1 als auch im Fall von Art. 81 I 2 ist weiterhin vorausgesetzt, dass die BReg die Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes gem. Art. 81 I 1 beim BPräsidenten beantragt. Ob die BReg einen solchen Antrag, der einen entspr. Kabinettsbeschluss voraussetzt, stellt, liegt in ihrem Ermessen. Der Antrag der BReg bedarf der Zustimmung des BRats. Verweigert der BRat seine Zustimmung, kann der BPräsident den Gesetzgebungsnotstand nicht erklären.
4. Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes
Nur der BPräsident kann den Gesetzgebungsnotstand gem. Art. 81 I erklären. Die Entscheidung darüber liegt im politischen Ermessen des BPräsidenten (DHS/Herzog Art. 81 Rn. 51). Eine verfassungsgerichtliche Überprüfung ist daher nur eingeschränkt möglich. Sie bleibt auf die formalen Voraussetzungen der Erklärung und auf Ermessensfehler beschränkt (SHH/Sannwald Art. 81 Rn. 23).
Die Erklärung des BPräsidenten bedarf nach Art. 58 I 1 der Gegenzeichnung durch den BKanzler (BK/Klein Art. 81 Rn. 44; aA BKanzler oder zuständiger BMinister Jarass/Pieroth/Jarass Art. 81 Rn. 2a), nicht jedoch der Verkündung im Bundesgesetzblatt (Umbach/Clemens/Rubel Art. 81 Rn. 18; aA MKS/Brenner Art. 81 Rn. 39).
III. Notstandsgesetzgebungsverfahren
1. Erneute Gesetzinitiative
Will die BReg einen Gesetzeserlass im Falle eines Gesetzgebungsnotstands herbeiführen, muss sie die inhaltlich unveränderte Gesetzesvorlage zu diesem Zweck erneut einbringen. Der Kreis der Initianten gem. Art. 76 I ist im Gesetzgebungsnotstand, der nur der BReg ein „Kampfmittel“ in die Hand geben will, auf die BReg verengt (BK/Klein Art. 81 Rn. 53; aA DHS/Herzog Art. 81 Rn. 55).
2. Keine erneute Zuleitung an den Bundesrat
Der Gesetzentwurf der BReg ist – anders als im Normalfall des Art. 76 II 1 vorgesehen – nicht erneut dem BRat zuzuleiten, da der BRat bei der ersten Einbringung der inhaltsgleichen Vorlage bereits Gelegenheit zur Stellungnahme hatte (BK/Klein Art. 81 Rn. 53).
3. Befassung des Bundestages
Mit der Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes wird der BTag unter Druck gesetzt. Er muss sich erneut mit der zuvor von ihm bereits abgelehnten Gesetzesvorlage befassen. Beschließt der BTag nunmehr das Gesetz, so kommt es im normalen Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 77 und 78 zustande. Ein Zustandekommen im Verfahren nach Art. 81 II setzt hingegen entweder eine erneute Ablehnung der Vorlage im BTag oder eine Verabschiedung des Gesetzes in einer für die BReg als unannehmbar bezeichneten Fassung voraus (Art. 81 II 1). Einer Ablehnung steht nach Art. 81 II 2 eine Nichtverabschiedung gleich, wenn der BTag über die Vorlage nicht innerhalb von vier Wochen nach der erneuten Einbringung einen Beschluss fasst.
4. Vermittlungsausschussverfahren
Das Vermittlungsausschussverfahren nach Art. 77 II muss im Falle eines Gesetzgebungsnotstands nicht zwingend durchlaufen werden. In Betracht könnte ein solches Verfahren ohnehin nur kommen, wenn der BTag das Gesetz in einer für die BReg unannehmbaren Fassung verabschiedet hat. Es steht dann im Ermessen der BReg, ob sie das Ergebnis eines beantragten Vermittlungsverfahrens abwarten will oder ob sie den Gesetzesbeschluss des BTags als unannehmbar bezeichnet und unter Umgehung eines Vermittlungsverfahrens eine schnelle Entscheidung mit dem BRat nach Art. 81 II sucht (BK/Klein Art. 81 Rn. 55).
5. Zustimmung des Bundesrates
Weiterhin setzt der Gesetzeserlass im Gesetzgebungsnotstand voraus, dass der BRat zustimmt. Fraglich ist, ob der BRat dabei inhaltliche Änderungen beschließen darf. Da das Verfahren im Gesetzgebungsnotstand erkennbar auf einen Konsens von BReg und BRat angelegt ist, ist eine nur teilweise oder inhaltlich modifizierende Zustimmung nicht zulässig. Etwas anderes kann auch – anders als im Fall von Art. 77 IIa und III 1 (Art. 77 Rn. 2) – nicht aus dem Wortlaut von Art. 81 II 1 („soweit“) geschlossen werden, da dies Sinn und Zweck der Bestimmung, einer Minderheitsregierung für eine bestimmte Zeit ein sinnvolles Weiterarbeiten zu ermöglichen, entgegenstehen würde (BK/Klein Art. 81 Rn. 64; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 81 Rn. 4; Sachs/Mann Art. 81 Rn. 8; aA DHS/Herzog Art. 81 Rn. 69).
6. Fingiertes Zustandekommen des Gesetzes
Mit der Zustimmung des BRats gilt das Gesetz gem. Art. 81 II als zustande gekommen. Es handelt sich dabei um eine gesetzliche Fiktion, die die Zustandekommenstatbestände des Art. 78 um einen weiteren Fall erweitert. Bei den im Verfahren nach Art. 81 zustande gekommenen Gesetzen handelt es sich um formelle Bundesgesetze, die der normalen verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen (BVerfGE 1, 184 (201); 17, 208 (209 f.)).
7. Ausfertigung, Gegenzeichnung, Verkündung
Ausfertigung, Gegenzeichnung und Verkündung eines im Gesetzgebungsnotstand zustande gekommenen Gesetzes richten sich nach der allg. Vorschrift des Art. 82.
8. Änderung und Aufhebung
Gesetze, die im Gesetzgebungsnotstand erlassen worden sind, dürfen, sofern die Voraussetzungen des Art. 81 vorliegen, später auch im Verfahren nach Art. 81 geändert oder aufgehoben werden. Nach Wegfall der Voraussetzungen des Gesetzgebungsnotstands (Rn. 20 f.) ist eine Änderung im normalen Gesetzgebungsverfahren jederzeit möglich. Umstr. ist, ob eine Änderung im regulären Gesetzgebungsverfahren auch während der Dauer des Gesetzgebungsnotstands zulässig ist. Während dies teilweise uneingeschränkt für möglich gehalten wird (Hömig/Wolff/Schnapauff/v. Knobloch Art. 81 Rn. 3), ist richtigerweise davon auszugehen, dass eine Änderung oder Aufhebung während der Dauer des Gesetzgebungsnotstandes im normalen Gesetzgebungsverfahren nur zulässig ist, sofern die Änderungsinitiative von der BReg ausgeht (BeckOK GG/Pieper Art. 81 Rn. 6.1). Änderungsinitiativen des BTags oder des BRats gegen den Willen der BReg sind hingegen nicht zulässig. Einer Minderheitsregierung sollen die im Gesetzgebungsnotstand durchgesetzten Gesetze während dessen Dauer nicht im regulären Gesetzgebungsverfahren aus der Hand geschlagen werden (BK/Klein Art. 81 Rn. 70).
IV. Zeitliche Dauer
Gem. Art. 81 III 1 können während der Amtszeit desselben BKanzlers sechs Monate lang nach der ersten Erklärung des Gesetzgebungsnotstands weitere vom BTag abgelehnte Gesetzesvorlagen im Verfahren nach Art. 81 verabschiedet werden. Dabei müssen die Voraussetzungen nach Art. 81 I und II vorliegen; die erneute Stellung einer Vertrauensfrage nach Art. 68 ist hingegen entbehrlich (Sachs/Mann Art. 81 Rn. 10). Nach Ablauf der Sechsmonatsfrist ist eine weitere Erklärung des Gesetzgebungsnotstands während der Amtszeit desselben BKanzlers nicht mehr zulässig (Art. 81 III 2). Durch die einmalige Sechsmonatsfrist soll der Ausnahmecharakter der Vorschrift gewahrt bleiben.
Außer durch Fristablauf wird der Gesetzgebungsnotstand beendet durch die Wahl eines neuen BKanzlers, den Rücktritt des BKanzlers oder dadurch, dass der BTag dem BKanzler das Vertrauen ausspricht.
V. Inhaltliche Schranke
Inhaltlich setzt Art. 81 IV der Notstandsgesetzgebung Grenzen. Ein im Gesetzgebungsnotstand zustande gekommenes Gesetz darf gem. Art. 79 keine Verfassungsänderung sowie keine teilweise oder vollständige Außerkraft- oder Außeranwendungsetzung des GG bewirken.